Abstracts/Teesid

Kole Graeme Galbraith und Marko Pajević (Universität Tartu): Wie Lenz die Achtundsechziger zur Kunst zurückführte, vermittelt von Peter Schneider über Georg Büchner  

Peter Schneider, einer der Wortführer der Achtundsechziger-Protestbewegung, die sich zunächst radikal gegen die bürgerliche Kunst und Tradition gewandt hatte, schrieb nur wenige Jahre später, 1972, eine Erzählung mit dem Titel Lenz. Mit diesem klaren Hinweis auf Jakob Michael Reinhold Lenz und weiteren Bezügen zur Kulturgeschichte und Tradition leitete er eine Trendwende ein, vom einseitig politisch-kollektivistischem Paradigma hin und zurück zum Individuum, zur Subjektivität und zur Kunst. Der historische Lenz wird über seine Darstellung in Georg Büchners Erzählung gleichen Namens aus dem Jahre 1839 (posthum) zur Chiffre für diese Entwicklung.  Der Beitrag geht der Verbindung dieser drei Lenze nach, um derart die Rolle der Kunst in sozialen und politischen Revolutionsbewegungen zu beleuchten. Dafür wird zunächst der historische Hintergrund der Achtundsechziger und deren kunsttheoretische Position dargestellt. Es wird gezeigt, inwiefern Lenz und Büchner für die Achtundsechziger zu Vorbildern taugten. Der Beitrag untersucht Büchners Novelle, mit Konzentration auf das „Kunstgespräch“ in diesem Werk. Diese Passage ist besonders aufschlussreich, weil sie, durch die Perspektive des Revolutionärs Georg Büchner, JMR Lenz‘ Sicht auf die Rolle der Kunst für die Erweckung der menschlichen Subjektivität in sozialen Revolutionen artikuliert und somit für die Anliegen der Achtundsechziger fruchtbar macht. Das Thema der Selbstbewusstwerdung wird über die Theorie der die Achtundsechziger prägenden Situationisten beleuchtet, um schliesslich zu analysieren, wie Schneider sich mittels seines Lenz, also über den Rückbezug auf den historischen Lenz, bzw. auf dessen Darstellung bei Büchner, wieder in die literarische Tradition einschreibt und derart der Kunst erneut eine gesellschaftliche Wirkungsmacht zugesteht. 

Kairit Kaur (Universität Tartu/Akademische Bibliothek der Universität Tallinn): Lenz, Boehlendorff, Liiv: über das Schicksal dreier baltischer Dichter

In meinem Vortrag möchte ich einen vergleichenden Blick auf das Leben, Werk und die Rezeption von dreier baltischen Dichter werfen. Eine auffallende Gemeinsamkeit dieser Schriftsteller ist, dass sie alle im Laufe ihres Lebens an einer Geisterkrankheit erkrankt sind, sie aber nichtsdestotrotz einen herausragenden Platz im literarischen Kanon ihrer Herkunftskultur einnehmen. Der deutschbaltische Publizist, Literaturkritiker und Dichter Jeannot Emil von Grotthuss (1865–1920) hat in seiner Anthologie Baltisches Dichterbuch (Reval/Tallinn 1894) Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) und Casimir Ulrich Boehldendorff (1775/76-1825) zu den drei hervorragendsten deutschbaltischen Lyrikern gezählt. Eine ebenso wichtige Stellung nimmt in der estnischen Literatur Juhan Liiv (1864-1913) ein, dessen Lyrik zum Stammrepertuar der estnischen Sängerfeste gehört. Inwieweit ähnelten und unterschieden sich die Schicksale und Rezeption des Schaffens dieser dreier Autoren und gibt es eine gemeinsame Linie, die das deutschbaltische und estnische Verständnis der Lyrik und des Dichters verbindet?

 

Martin Klöker (Universität Osnabrück/Under und Tuglas Literaturzentrum): Lenz und der (baltische) Adel

Der Adel spielt in der baltischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert und noch mehr dann im 19. und 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Einerseits gibt es überdurchschnittlich viele adelige Autorinnen und Autoren – vor allem ist der Anteil der Frauen hier groß –, andererseits ist der Adel in vielfältiger Gestalt (als individuelle Person oder ständische Gruppe, als Gutsherren und Herrscher über Bauern, aufgeklärt oder gerade nicht …) in der Literatur thematisiert und gestaltet.

Im Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, in welcher Weise Jakob Lenz und seine Werke daran Anteil haben. Unzweifelhaft gibt es auch hier dieses allgemeine literarische und kritische Interesse am Adel und seiner Lebenswelt, wurde doch beispielsweise für den Hofmeister ein „schon fast ins Bizarre karikiertes Adelsmilieu“ (Guthke) festgestellt. Allerdings stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die literarische Darstellung zur Lebenswelt von Lenz und speziell zu den persönlichen (livländischen) Erfahrungen passt.

 

Liina Lukas (Universität Tartu): Transgression im Werk von Jakob Michael Reinhold Lenz

„Ich liebe alle seltsame Einfälle; sie sind das Zeichen nicht gemeiner Herzen. Wer in dem gebahnten Wege forttrabt, mit dem halte ich’s keine Viertelstunde aus“. So schrieb Jakob Michael Reinhold Lenz an Sophie von La Roche im Juli des Jahres 1775 aus Straßburg.

Die seltsamen Einfälle, die oft provokativ die Normen und Grenzen der gesellschaftlichen oder moralischen Ordnung überprüfen und eventuell auch überschreiten, behandelte Lenz auch in seinem Werk. Lenz ist ein transgressiver Autor par exzellence, wenn man unter der Transgression die Überschreitung einer Norm, eines Gesetzes oder Tabu versteht (Georges Bataille, Michel Foucault).

Ein mit Tabus und Normen belastetes Thema seiner Zeit, die in seinem Werk einen sehr wichtigen Platz einnimmt, ist die Sexualität. Sowohl in seinen theoretischen als auch in den belletristischen Werken behandelt Lenz dieses Thema, mit einer bis dahin seltenen Direktheit – auch das ist schon mal transgressiv.

In meinem Vortrag gehe ich der Repräsentation der Transgressionen im Bereich des Sexuellen im Werk von Lenz nach. Ich konzentriere mich dabei vor allem auf sein transgressivstes Werk, die Komödie „Der Hofmeister, oder Vorteile einer Privaterziehung“.

 

Martin Pabst (Deutsches Kulturforum östliches Europa): Der baltische Literatenstand. Eine Einführung

Thesen:

  1. Der baltische Literatenstand ist ein Ergebnis der korporativen Abschließung der baltischen Ritterschaften ab dem 17. Jahrhundert.
  2. Der entstehende baltische Literatenstand war Träger der engen kulturellen Anbindung der Ostseeprovinzen an Deutschland.
  3. Der baltische Literatenstand ist zugleich eine Verfestigung der ständischen Gesellschaft der Ostseeprovinzen, wie auch ein Ausgangspunkt für ihre spätere Überwindung.

Abstract:

Der Terminus „Literaten“ bezeichnet im baltischen Deutsch bzw. der baltischen Geschichte nicht – wie im allgemeinen deutschen Sprachgebrauch üblich – Autoren literarischer Werke. Vielmehr handelte es sich um eine besondere Gruppe der ständischen Gesellschaft Estlands, Livlands und Kurlands, die anders als Adel, Bürger und Bauern nicht primär rechtlich konstitutiert war, sondern diejenigen umfasste, die eine Universität besucht hatten. Bis zur Wiedergründung der Universität Dorpat rekrutierte sich der entstehende Literatenstand im 18. Jahrhundert aus den Absolventen deutscher Universitäten. Viele von ihnen stammten aus Deutschland und zogen erst nach dem Studium nach Est-, Liv- und Kurland, was die kulturelle Bindung an Deutschland verstärkte. Die Literaten des 18. Jahrhunderts waren vor allem Pastoren und Hofmeister (Hauslehrer) adeliger Familie. Die Tätigkeit als Hofmeister war in der Regel beruflicher Einstieg und Zwischenstation zu einer Anstellung als Pastor oder in der Verwaltung.

 

Kristel Pappel (Estnische Musik- und Theaterakademie): Jakob Lenz in der Musik

Jakob Lenz (1751–1792) hat dem Musiktheater des 20. Jahrhunderts durch sein Schaffen und seine Persönlichkeit wichtige Impulse gegeben. Seine Komödie „Die Soldaten“ hat den Schriftsteller Georg Büchner (1813–1837) angeregt, das Drama „Woyzeck“ zu schreiben, was seinerseits den Komponisten Alban Berg (1885–1935) für die Oper „Wozzeck“ (1925) – heutzutage eine der meistgespielten Opern der Moderne – inspirierte. Und „Die Soldaten“ dienten als direkte Textvorlage für die gleichnamige Oper (1965) von Bernd Alois Zimmermann (1918–1970), die als ein Schlüsselwerk des Musiktheaters nach 1945 gilt.

Über die Person Jakob Lenz hat Wolfgang Rihm (1952) eine Kammeroper in dreizehn Bildern (Libretto: Michael Fröhling nach der Erzählung „Lenz“ von Georg Büchner) geschrieben. Die Uraufführung fand am 8. März 1979 in der Opera stabile der Staatsoper Hamburg statt. Danach hat man das Werk mehrmals inszeniert.

Im Referat wird die musikalische Charakterisierung der Person Lenz in der Oper von Rihm dargestellt sowie die verschiedenen szenischen Deutungen des Werks interpretiert und dabei gefragt, wie das Lenz-Bild sich geändert hat.

 

Silke Pasewalck (Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa): Lenz im deutschsprachigen Hörspiel

Dem Genre des Hörspiels wurde in der umfangreichen Forschung zur Lenz-Rezeption bislang noch keine nähere Aufmerksamkeit zuteil, obgleich es mehrere genuin für den Rundfunk entstandene Produktionen gibt. Der Vortrag beschäftigt sich mit drei radiophonen Lenz-Porträts aus unterschiedlichen Zeiten und fragt sowohl nach den spezifisch genretypischen Mitteln als auch nach dem Bild, das die Radiotexte mit akustischen Mitteln von dem Dichter entwerfen. In allen drei untersuchten Hörspielen werden Leben und Werk enggeführt; dabei wird Lenz auf jeweils unterschiedliche Weise zum Exemplum genommen. Die Hörspiele von Fritz Peter Buch Michael Reinhold Lenz“ (1966/Ursendung: 1932) und Gert Hofmann Die Rückkehr des verlorenen Jakob Michael Reinhold Lenz nach Riga (1978) fokussieren jeweils einen zentralen Moment im Leben des Autors: Buch jenen Tag im Jahr 1772, als Lenz Goethes Urgötz liest, und Hofmann den 23. Juli 1779, als Lenz in Riga ankommt und also ins Baltikum zurückkehrt. Beide arbeiten im Wesentlichen mit dem Mittel des (inneren) Monologs und nutzen die Möglichkeiten des Genres, eine innere Bühne zu bespielen. Im Unterschied zu diesen beiden Hörspielen geht die Radioarbeit von Katharina Gericke aus dem Jahr 2011 Lenz. Fragmente von der Form dialogischer, experimenteller und verspielter mit ihrem Stoff um und fokussiert nicht einen zentralen Tag in Lenz‘ Leben, sondern viele Bruchstücke desselben.

 

Beata Paškevica (Lettische Nationalbibliothek): Christian David Lenz und das Herrnhutertum in Livland

Christian David Lenz hat seinen Platz in der Kulturgeschichte Lettlands mit seiner lettischen Predigtsammlung gesichert. Am Anfang seiner Karriere als theologischer Schriftgelehrter steht aber die 1750 erschienene international rezipierte „für unsere Zeiten sehr nöthig geachtete Vorrede, worinnen die Kreuz-Theologie der so genannten Herrenhuter, vornehmlich aus ihrem XII Lieder-Anhange …“ zu seinen „Gedanken über die Worte Pauli 1 Cor. 1. V. 18 von der ungleichen Aufnahme des Worts vom Creutz“. In dieser umfangreichen Vorrede übt er Kritik an den herrnhutischen Gesangbüchern der Sichtungszeit und analysiert seine persönliche Einstellung zu der Brüdergemeine. Die von der offiziellen Zensur nicht gebilligten lettischen herrnhutischen Gesangbücher waren einer der Hauptanklagpunkte in dem Inquisitionsprozess gegen die herrnhutische Wirksamkeit in Livland in den Jahren 1743 und 1744. Der Nachhall dieses Prozesses dauerte noch viele Jahre nach der Urteilssprechung – dem Verbot der herrnhutischen Versammlungen und Einsammlung aller herrnhutischen Handschriften und Drucksachen – nicht nur in den livländischen Provinzen, sondern auch in dem europäischen deutschsprachigen Raum an. In dem Vortrag möchte ich die Argumente von Christian David Lenz in Beziehung zu den Ereignissen und dem Ideengut der Herrnhuter in Lettland setzen.

 

Maris Saagpakk (Universität Tallinn): Frühe Übersetzungen der fiktionalen Literatur ins Estnische. Einige Anmerkungen zu kulturhistorischen Dynamiken und Beispiele anhand der Übersetzungen von Goethe und Schiller

Der Beitrag bietet zuerst eine Übersicht der allgemeinen Übersetzungstendenzen ins Estnische in der Periode 1850–1900. In dieser Periode übernimmt die sich formierende estnische Elite das Feld der Übersetzung ins Estnische von den volksaufklärerisch gesinnten Deutschbalten. Das schriftliche Wort auf Estnisch in dieser Zeit ist an sich ein Politikum und ist als Teil des Nationalen Erwachens der Esten zu sehen. Der Beitrag zeigt die Dynamik der Übersetzungen im Allgemeinen auf und führt auch die Anzahl der übersetzten Belletristik je nach Sprache und Genre an.

Zweitens bettet der Beitrag die frühen Übersetzungen von Goethe und Schiller in die allgemeinen Trends ein. Genauere Aufmerksamkeit wird auf die früheste der Übersetzungen in der genannten Periode geschenkt – „Das Lied von der Glocke“ von Friedrich Schiller, dessen estnische Übersetzung im Jahre 1860 im Vorwort ein Plädoyer für die Übersetzung der Belletristik bietet.

Der Beitrag ist Teil des Forschungsprojekts „Translation in History. Estonia 1850–2010: Texts, Agents, Institutions and Practices.“ (Estnische Forschungsagentur, PRG1206)