Abstracts

Anna Ananieva; Rolf Haaser / Universität Tübingen
Bekenntnisse eines sentimentalen Reisenden: Die verschlungenen Reise- und Lebenswege in der autofiktionalen Prosa August von Kotzebues

Der in Weimar geborene August von Kotzebue (1761-1818) ließ sich im Alter von 22 Jahren in Reval (Tallinn) nieder. Die 1785 erfolgte Heirat mit Friederike von Essen (1763-1790), einer Tochter des Oberkommandanten von Reval, festigte die sozialen Verbindungen zu seiner baltischen Wahlheimat. Hier setzte Kotzebue seine zuvor in Jena und St. Petersburg begonnen Beschäftigungen mit der Literatur und dem Journalismus erfolgreich fort und erschien schon bald als Theaterautor im Rampenlicht der europäischen Öffentlichkeit. Die Erstaufführungen seiner Schauspiele „Menschenhaß und Reue“ (1788), „Die Indianer in England“ (1789) und „Kind der Liebe“ (1790), die das Revaler Liebhabertheater inszeniert hatte, bereiteten den internationalen Aufstieg Kotzebues als gefeierter Theatermacher und skandalumwitterter Publizist vor.

Der Vortrag geht den Strategien der Selbstinszenierung nach, die Kotzebue in seiner autobiografischen Prosa und zwar in Form von Reisebeschreibungen entwickelte. Im Mittelpunkt des Vortrages steht die Reisebeschreibung „Meine Flucht nach Paris im Winter 1790“ (Leipzig: Kummer, 1791), die als eine wegweisende Literaturproduktion für die Herausbildung einer markanten Poetologie des Ichs vorgestellt und im Kontext der späteren autofiktionalen Reiseerzählungen Kotzebues verortet wird.

Der unerwartete Tod seiner Frau Friederike löste im November 1790 eine Lebenskrise aus, die August von Kotzebue durch eine Reise in das revolutionäre Frankreich zu bewältigen suchte. Die persönliche Tragödie, die sich während eines Erholungsurlaubs der Familie in Deutschland ereignete, erschütterte den Lebensweg des Schriftstellers auf eine dramatische Weise. Im Vortrag werden die originellen poetologischen Wege beleuchtet, die Kotzebue kunstvoll einschlug, indem er sich zwischen der skandalisierenden Selbstentblößung im Stile von J.-J. Rousseaus „Confessions“ (1782; 1789), den aktuellen Paris-Beschreibungen wie „Über Paris und die Pariser“ (1791) von Friedrich Schulz und der spielerischen Inszenierung einer sentimentalen Reiseerzählung, wie sie Nikolaj Karamzin in den „Briefen eines russischen Reisenden“ (1791-1792) zeigte, bewegte. Denn die literarische Verarbeitung dieser Lebenskrise in einer Reisebeschreibung, die Kotzebue zeitnah einem breiten Publikum in Buchform präsentierte, festigte seine Position als Erfolgsschriftsteller.

Raivis Bičevskis / Universität Lettlands in Riga
“Die Wolkenteufel”. Ludwig Klages’ Nordische Runde im Baltikum

Der Philosoph, Graphologe und Autor des ersten modernen ökologischen Manifestes “Mensch und Erde” (1913) Ludwig Klages reiste 1935 mit Vortragen nach Skandinavien und Baltikum. Diese Reise, die Klages selbst “die nordische Runde” genannt hat, führte ihn von Niederlanden durch Dänmark, Norwegen, Schweden, Finnland, Estland, Lettland zurück nach Deutschland, wo er aber nicht mehr lebte – seit Jahren war sein Domezil Zürch in Schweiz. Im Verlauf von 45 Tagen hielt Klages in der 24 Städten gut besuchten Vorträge zur Graphologie, Charakterkunde, Nietzsches Philosophie und philosophischen Grundbegriffen, die polemisch angelegt waren. Die Reise, die ihn auch nach Tallinn, Tartu und Riga führte, spiegelt sich in seinen

Reisenotizen und auch im Reisebericht wieder. Die Archivmaterialien, die heute im Schiller-Literaturarchiv Marbach aufbewahrt sind, laden uns heute ein eine Reise zu rekonstruieren, wo sich viele Dimensionen der Zeitgeschichte, Ideengeschichte, aber auch Institutionengeschichte und Geschichte der Reisekultur zwielichtartig erschliessen. Diskursanalytisch, aber auch kritisch-hermeneutisch gelesen, erweist sich die Reisematerialien als Selbstpositionierung eines Philosophen, der damals ambivalent zur politischen Lage in Deutschland stand, aber auch als ein Palimpsest der im Spiegel von Klages’ reflektierten skandinavischen, deutschbaltischen, estnischen und lettischen Perspektiven auf das Geschehen der Zeit und auf das Baltikum.

Betty Brux-Pinkwart / Eutiner Landesbibliothek
Vom Baltikum nach Down Under – Der Australienaufenthalt Helene von Engelhardts 1885 bis 1894 in Briefen und Werken

Der Vortrag möchte sich der in Vileikiai (Ostpreußen/Litauen) geborenen deutschbaltischen Schriftstellerin und Übersetzerin Helene von Engelhardt-Schnellstein, ab 1876 verheiratete Pabst (1850–1910) zuwenden. Bekanntheit erlangte sie vor allem durch ihre lyrischen Arbeiten und das Verfassen von Versepen. Weniger bekannt hingegen ist, dass sie 1908 einen Prosaband veröffentlicht hat, der dem Untertitel zufolge Novellen, Studien und Erinnerungsblätter enthält. Unter dem Titel Zeichnungen eines Fahrenden enthält der Band fünf Erzählungen, die Reisen des Ich-Erzählers Felix von Nordstein, hinter dem sich niemand anderes verbirgt als die Autorin selbst, dokumentieren und die ihn vom Süden Deutschlands, über London, Italien bis nach Australien führen. Der Vortrag möchte diese literarischen Reisetexte, die zum Teil detaillierte Einblicke in die zeitgenössische Reisepraxis per Eisenbahn und Dampfschiff geben, vorstellen und in Beziehung zu der umfangreichen Reisetätigkeit Helene von Engelhardts setzen. Aufgewachsen und ausgebildet in Ostpreußen und Kurland, lebte sie bereits 1869 bis 1870 in Stuttgart. Im Anschluss zog sie mit ihrer Familie nach Riga, wo sie ihren zukünftigen Ehemann, den aus Königsberg stammenden Komponisten und Pianisten Louis Pabst (1846–1921) kennenlernte und heiratete. Sie begleitete ihn auf zahlreichen Konzertreisen innerhalb Deutschlands, nach Österreich (u.a. Wien), Großbritannien (u.a. London) und Russland (u.a. Moskau). Ab 1885 lebte das Paar zehn Jahre lang in Australien (Melbourne). Weitere Lebensstationen führten sie dann nach Ägypten, Weimar, Wiesbaden und Wien, wo die Schriftstellerin schließlich 1910 starb. Die prosaischen Texte von Helene von Engelhardt lassen autobiographische Bezüge erkennen, die die bisher noch wenig bekannte Biographie der Autorin näher erhellen können. Es soll der Versuch unternommen werden, weiteres Quellenmaterial zu Helene von Engelhardt zu heben, autobiographische Bezüge in ihren Erzählungen realhistorisch zu untermauern und ihre rege Reisetätigkeit näher zu skizzieren. Das Formulieren von Fragen zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Helene von Engelhardt soll den Vortrag abrunden.

Aleksej Burov / Universität Vilnius
Das deutsche Kulturerbe im Baltikum aus der Sicht eines Reisenden aus Litauen

Mit dem geplanten Vortrag wird das Ziel verfolgt, die Reiseberichte des litauischen Philosophen, Politikers und Schriftstellers Arvydas Juozaitis (gerb. 1956, Vilnius) zu untersuchen. Aufgrund seiner diplomatischen Tätigkeit in Kaliningrad (2004–2009), dem langjährigen Aufenthalt in Riga (2009–2012) und der akademischen Arbeit in Klaipėda (2013–2018) sammelte Juozaitis wertvolle Erfahrungen als Reisender durch die Region. Diese fanden ein wenig später ihren Ausdruck in seiner Trilogie: „Die königliche Stadt ohne Könige“ (2007), „Riga als Zivilisation von niemandem“ (2011) und „Klaipėda. Das Geheimnis von Memel“ (2016). Bekannterweise waren aller drei Städte – Königsberg, Memel und Riga – maßgebend von der deutschen Kultur geprägt. Im Vortrag soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern das deutsche Kulturerbe in den modernen Reiseberichten über Kaliningrad, Klaipėda und Riga von einem Reisenden aus Litauen erschlossen und dementsprechend thematisiert wird.

Pauls Daija / Lettische Nationalbibliothek
Andreas Bergmann’s journey form Courland to East Prussia in 1831

Andreas Bergmann (Andrejs Bergmanis, 1810–1869) was a Latvian teacher. He was born in Courland in the family of a peasant and was noticed early on by the pastor of Zirau/Cīrava, Johan Christoph Walter, who took him in as a child for home education. Bergmann was twenty-one years old when he left Courland in 1831 and went to study at Dexen Teachers’ Seminary in East Prussia (near Konigsberg). Thanks to Walter’s care, Bergmann’s travel writings as well as letters to the pastor, family, friends and supporters were regularly published in Latvian newspaper “Latweeschu Awises” (“Latvian Newspaper”). These letters are a fascinating document of the era. They reveal the inner world of the son of Latvian serf and the experience associated with rising above one’s social rank. Bergmann’s acculturation process in East Prussia is described in detail along with first acquaintance with the wider world, where everything seemed surprising to him and where he was kindly received. After finishing his studies he returned to Latvia, established a celebrated school for peasants (it was praised by Garlieb Merkel among others) and later took an ambiguous stand against Latvian national awakening movement. Bergmann wrote his letters home as well as travel descriptions in Latvian (of course, not without German words) so as not to forget his language. At this moment, they haven’t been translated into any other language and remain accesible only in Latvian. 

Iwan-Michelangelo D’Aprile / Universität Potsdam 
Schiffbruch mit Goethe. Reise- und Karrierewege baltischer Spätaufklärer (Lenz, Jenisch, Boehlendorff)

Reisen von nicht-adligen deutsch-baltischen Schriftstellern im 18. Jahrhundert waren in aller Regel berufs- und karrierebedingte Reisen. Als Hofmeister und Hauslehrer begleiteten sie adlige Funktionsträger und wohlhabende Kaufleute in der Hoffnung, sich an einem der kulturellen Zentren des deutschsprachigen Raumes beruflich zu etablieren: an Fürstenhöfen, Universitäten oder städtischen Marktzentren. Auch wenn eine Rückkehr nicht ausgeschlossen war, handelte es sich in heutiger Terminologie eher um Formen der Wirtschafts- und Arbeitsemigration. Sowohl die Reiseziele als auch die Reiserouten sind hieraus erklärbar, während dies in den Reiseberichten zumeist hinter vielfältigen Literarisierungen und Idealisierungen zurücktritt. Dies gilt auch und insbesondere für den heute bekanntesten deutsch-baltischen Reisenden Johann Gottfried Herder und dessen „Journal meiner Reise im Jahr 1769“. In dem Vortrag werden drei Beispiele von tragisch gescheiterten Versuchen solcher Arbeitsemigration deutsch-baltischer Schriftsteller in der Spätaufklärung diskutiert, wobei sich in den Reise- und Karrierewegen von Jakob Michael Reinhold Lenz, Daniel Jenisch und Casimir Boehlendorff auffällige Parallelen zeigen: als intellektuelle Hoffnungsträger aus der baltischen Heimat gestartet und mit der Empfehlung renommierter Gelehrter und Schriftsteller (Kant, Hamann, Herder, Hölderlin u.a.) ausgestattet, bemühten sie sich erfolglos um die Anerkennung durch den literarischen Meinungsführer und Kulturfunktionär Goethe. Dessen vernichtende Reaktion, die weit über das Sachliche hinausging und bewusst auf ihre öffentliche Diskreditierung und Pathologisierung zielte, bedeutete für sie einen umfassenden existentiellen Schiffbruch, der sich in materieller Not, geistiger Zerrüttung, Suizidversuchen bzw. tatsächlich erfolgten Suiziden sowie der literarischen Ächtung noch weit über ihr Lebensende hinaus in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung manifestiert. Angesichts der über das Persönliche weit hinausgehenden erkennbaren gemeinsamen Muster der jeweiligen Goethe’schen Verrisse und angesichts des überproportional hohen Anteils deutsch-baltischer Schriftsteller unter den „Goethe-Opfern“ (Timan Jens) wirft der Vortrag die Frage nach möglichen strukturellen Erklärungen für dieses auffällige Phänomen des ausgehenden 18. Jahrhunderts auf.

Tiina-Erika Friedenthal / Universität Tartu
Ich sah im Traum, dass ich zum Ende der Welt ging…” Reisetexte der Brüdergemeine in Livland und Estland

Die 1727 in Herrnhut (Deutschland) gegründete Brüdergemeine unternahm zahlreiche Missionsreisen und besuchte Gemeinden weltweit. Auf Einladung einiger Einwohner Rigas erreichten die Brüder bereits 1729 Livland. Christian David, ein Handwerker und Mitbegründer der Herrnhuter Gemeinde, verbrachte fast ein Jahr in Livland und Estland, und schrieb nach Herrnhut über seine Reise sowie über das, was er vor Ort sah und tat. Ihm folgten weitere Mitarbeiter aus Herrnhut, die alle in Briefen, Berichten und Tagebüchern über ihre Reisen und die örtlichen Gegebenheiten und Tätigkeiten schrieben. Solche Texte erreichten auch Livland, wo die Bewegung sowohl Deutsche – Adlige, Kaufleute, Handwerker, Geistliche, Schulmeister – als auch Esten und Letten erfasste, die größtenteils leibeigene Bauern waren. Die Herrnhuter „Reisetexte“ wurden auch ins Estnische und Lettische übersetzt und den Brüdern und Schwestern vorgelesen, die als leibeigene Bauern kein Recht hatten, ihre Wohnort zu verlassen. Sie konnten nicht reisen. Im Fokus des Vortrags stehen die Grenzen der Bewegungsfreiheit der „erwachten“ Bauern des 18. Jahrhunderts, seine Reaktionen auf die Reisetexte sowie seine Möglichkeiten, über eigene Reisen zu berichten und zu schreiben. Als Quellenmaterial dienen hauptsächlich die von dem Literaturwissenschaftler Rudolf Põldmäe und dem Kirchenhistoriker Voldemar Ilja zusammengetragenen Texte.

Uwe Hentschel / TU Chemnitz

Mein Herz klopft wärmer als es seit Jahren that: Ich habe Republikaner gesehn!
[Garlieb Merkel an Carl August Böttiger, 8. Dezember 1798]

Auto- und Heteroimages im Reisebericht Garlieb Merkels

Reiseberichte liefern keine Wirklichkeitsbeschreibungen, sondern vielmehr Wirklichkeitsauffassungen; diese sind wesentlich mitgeprägt durch die Ausgangserfahrungen und das in die Fremde mitgebrachte Wissen des Reisenden. In dem Tagungsbeitrag wird der Frage nachgegangen, inwieweit Merkels Reisebericht über die deutschen Hansestädte Hamburg und Lübeck geprägt ist von den politisch-aufklärerischen Maßgaben, die Merkel bereits in Lettland ausgeprägt und in seiner Kampfschrift über Die Letten angelegt hat. Vergleichbar im methodischen Ansatz verfasst er nun ein sozialkritisches Tableau, das als republikanisches Gegenbild zur Heimatkultur entworfen wird.

Kairit Kaur / Universität Tartu, Akademische Bibliothek der Universität Tallinn
´Reise Beschreibung´ (1754) des Revaler Kaufmanns Heinrich Johann von Glehn

Reisen spielte eine wichtige Rolle im Leben der Kaufleute. Aus der Mitte des 18. Jahrhunderts ist in der Sammlung der Baltica-Abteilung der Akademischen Bibliothek der Universität Tallinn ein Reisebericht des Revaler Kaufmanns Heinrich Johann von Glehn (1726–1760) erhalten. Darin erinnert er sich – in Versen! – an mehrere Reisen. Die erste Reise unternahm er im Jahr 1750 und diese führte ihn über Narva nach St. Petersburg, die zweite 1751 über Liv-, Kurland und Preußen nach Deutschland und in die Niederlande. Während der dritten Reise 1753 begab er sich aus den Niederlanden weiter nach England und Frankreich, um schließlich über Deutschland nach Reval zurückzukehren, wo er im März 1754 angekommen ist. Die Niederschrift seiner versifizierten Erinnerungen begann er während seiner letzten Reise bei einem Aufenthalt in Leipzig. Erst nach der Michaelismesse angekommen, hatte er nur wenige Aufgaben und deshalb etwas Muße, um über seine Reiseeindrücke zu sinnieren. Was dabei herauskam, darüber näher im Vortrag.

Andreas Keller / Universität Potsdam
„… außerhalb des eigentlichen Ernstes des Lebens“: Reisen als Lizenz zur Relativierung des gesellschaftlichen Status in den Werken der Theophile von Bodisco (1873-1944)

Gero von Wilpert bezeichnet Theophile von Bodisco zwar als „Lichtblick“ in der langen Reihe früher deutschbaltischer Erzählerinnen, das Werk der in Reval/Talinn geborenen Autorin aber findet bis heute nur wenig gebührende Beachtung. Meist tritt sie nur knapp benannt in literarischen Überblicksdarstellungen hervor, in Verbindung mit eher allgemeinen Rubriken. Der Vortrag unternimmt nun einen Versuch, sie unter der Reisethematik etwas fundierter in das wissenschaftliche Gespräch zu bringen. Das Reisen erscheint in den Texten der baltischen Adligen ganz explizit als „wirkliches Leben“, es gilt ihr als „losgelöstes“ Gefühl und steht mit semantischen Größen wie „Traum“ und „Idealismus“ in einer direkten Beziehung. Ihr erster Roman (1912) trug noch den Arbeitstitel „Lebensspiel und Lebensernst“, bevor sie ihn dann 1913 unter „Im Hause des alten Freiherrn“ publizierte. Hier bieten sich Möglichkeiten, einen spezifischen Realitätsbegriff zwischen der akribischen Beschreibung des Wahrgenommenen („gewissenhaft alte Ruinen besehen“), der literarischen Erfindung und der poetischen Imagination zu eruieren. Daher gilt es vorab, die gattungskritischen Korrelationen zwischen Roman, Bericht und Autobiografie — allesamt eng mit den politischen Systemen und Wechseln im Baltikum verknüpft — nachzuzeichnen, um die Reflexionen und Findungsprozesse der Autorin als Individuum und Repräsentantin des deutschen Adels genauer bestimmen zu können. 

Die Selbstrelativierung als Standesperson in Verbindung mit dem festen Bekenntnis zu ihrer Herkunftsregion lässt sich gerade über die Leitkategorien der adligen Lebenswelt besonders gut verfolgen. Die Verinnerlichung von Konventionen und ständischen Verhaltensmustern vollzieht sich bei ihr biografisch zeitgleich mit dem sich öffnenden Panorama des begründeten und lizensierten Verstoßes. Auch der Endpunkt einer gänzlichen Abschaffung dieser traditionsreichen Lebenswelt gibt sich in den oft unscheinbaren Bemerkungen der Reisedarstellungen deutlich zu erkennen. Eine entsprechende Freilegung der Tiefenstrukturen soll hier weitere Aufschlüsse erbringen, allerdings nicht nicht nur in sozialgeschichtlicher Hinsicht: Auch die mitgebrachten bzw. in der Fremde relativierten religiösen Muster ermöglichen interessante Hinweise auf eine prozessuale Selbstorientierung. So wird die Reisende in Oberitalien mit der Mitteilung eines Konversionserlebnisses („traurig und erregend“) in der Verwandtschaft brüskiert, was wiederum weitere religiöse Überlegungen auslöst, die sich in Rom dann durch eine persönliche Begegnung mit dem Stellvertreter Christi noch verstärken. Sinnliche und kultische Erlebnisse tun ein Übriges, die Autorin verweist bereits unterwegs darauf, dass Dostojewski den Papst ja als den Anti-Christ betrachtete, ein Vorgriff auf ihr späteres Buch „Dostojewski als religiöse Erscheinung“ (1921). 1905 sieht sie in Russland während der Kriegsniederlagen „das Volk“ durch die „Dämonen“ aufgehetzt („um mit Dostojewski zu sprechen“). Dort erkenne man wie immer keine politische Weitsicht und keinen Willen zu Reformen, stattdessen walteten „dunkle Elemente“. Ihre Reisen innerhalb der heimatlichen Region des Baltikums, Pendelreisen zwischen der späteren Wahlheimat Berlin und den estnischen Familiensitzen bis hin zu fluchtartigen Reisen im Kontext der Oktoberrevolution von 1917 reichern ihre Erfahrung an, ergänzt durch die Erlebnisse im nördlichen (Finnland, Schweden) westlichen (Rheinland, Schweiz) und südlichen (Italien) Europa. Frauen wie Theophile von Bodisco dürfen als vergleichsweise mutig gelten, nicht nur weil sie den Beschwernissen von Seereisen trotzte und immer wieder Mitreisende ermunterte, sich unbekannten Reisezielen zu nähern, sondern auch weil die neue Orientierung in der ‚verklingenden Welt‘ bei ihr in einem sehr umfassenden Sinn zu verstehen ist. Wenn Monika Hunnius in Italien „vom Verschwinden der eigenen Persönlichkeit“ spricht, dann zeigt sich bei Theophile von Bodisco eher das Gegenteil: sie findet zu sich selbst, zu ihrem Stand und zu ihrer Region.

Kadi Kähär-Peterson / University of Tartu
Garlieb Merkel’s ‘On Germany’ – a semi-travelogue?

Garlieb Merkel was a writer who embraced the experimentation with new genres and the expansion of existing genre boundaries. For instance, in 1798, he published anonymously ’A Return to Fatherland’ (Die Rückkehr ins Vaterland), which he idenfied as a ‘semi-novel’ (Halbroman). Exactly two decades later, Merkel published a two-volume work ‘On Germany, as I found it again after a ten-year leave’ (Ueber Deutschland, wie ich es nach einer zehnjährigen Entfernung wieder fand). Although the work is titled as a travelogue, its content evolved into a broader reflection on the future of Europe. This prompts the question of whether it can truly be considered a travelogue at all. If the play with genres is continued, perhaps it can be labelled as a ‘semi-travelogue´?

Another question arises from Merkel’s activities in Germany in 1816-1817 and the letters written in that period. Was it a travel, or an unsuccessful return to a desired fatherland? The aim of this paper is to discuss these questions and analyse how they influence the given travelogue.

Olev Liivik / Universität Tartu
Sibirien-Tagebuch eines estnischen Deutschen – untypisches Reisetext

Kann man ein Tagebuch als einen Reisetext betrachten? Diese Frage stellt sich im Hinblick auf das Tagebuch eines aus Estland verschleppten Deutschen, der als Sondersiedler in Sibirien weilte, und dort ein Tagebuch führte.

Vor einigen Jahren wurde in Estland ein Manuskript dieses Tagebuchs entdeckt, dessen Verfasser 1945 aus Estland nach Sibirien verschleppt wurde. Auf der Reise zur Sondersiedlung begann er, ein Tagebuch zu führen, das er nach seiner Heimkehr zwei Jahre später beendete. Dieses Dokument ist einerseits ein unvergleichlicher und erstaunlicher Zeitzeugenbericht, der den stalinistischen Terror gegen die in Estland verbliebenen Deutschen darstellt, andererseits eine erlebnisreiche Schilderung vom Abschied von der Heimat, der Rückkehr in die Heimat und allem, was dazwischen liegt.

In dem Vortrag wird der Verfasser des Tagebuchs, seine Absichten für das Führen des Tagebuchs und seine Erlebnisse in der fremden Umgebung behandelt.

Kristel Pappel / Estnische Musik- und Theaterakademie
„… ich reise blos als Mensch“. Italienisches Theater im Spiegel der „Erinnerungen von einer Reise aus Liefland nach Rom und Neapel“ August von Kotzebues

August von Kotzebues dreibändige „Erinnerungen von einer Reise aus Liefland nach Rom und Neapel“ aus dem Jahr 1805 ist einer der spannendsten und facettenreichsten Reiseberichte der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Kotzebues Reisekosmos umfasst das Leben in seinen unterschiedlichsten Erscheinungen und stellt in seiner Form eine unkonventionelle „Gattungsmischung“ dar, wie ihn Alexander Košenina (2020) bezeichnet hat.
Einen wichtigen Platz in diesem Reisekosmos nimmt das Theater ein. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit besuchte Kotzebue während seiner Reise Theateraufführungen – von der Opera seria bis zum Straßentheater eines Pulcinella. In der Musik- und Theatergeschichtsschreibung gilt die Zeit um 1800 in Italien als Krise. Der Vortrag geht der Frage nach, wie sich das italienische Theater, insbesondere die musikalischen Bühnenformen, in Kotzebues Reisebeschreibungen widerspiegeln. Was ist ihm, dem Dramatiker und Theatermenschen, wichtig zu beobachten und seinen Lesern zu vermitteln? Und, zuletzt, was erfahren wir über seine ästhetischen Prinzipien?

Silke Pasewalck / Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa, Universität Oldenburg
Postmemoriale Reisen ins östliche Europa am Beispiel von Sophie Pannitschkas „Dorpat und die grüne Kiste“ (2021) und Christiane Hoffmanns „Alles war wir nicht erinnern“ (2022)

Das Motiv der postmemorialen Reise findet sich in zahlreichen literarischen Texten der Gegenwart. Die Erzähltexte changieren zwischen Erinnerung, Recherche und Imagination und inszenieren eine Suchbewegung auf den Spuren unbewältigter Erfahrungen ihrer Vorfahren. Die Suche führt in die Herkunftsregionen ihrer Familien, die diese aufgrund der Vernichtungspolitik und der Zwangsmigrationen im Zuge des Zweiten Weltkrieges – zumeist fluchtartig – verlassen mussten. Fürs Baltikum wären etwa Bianca SchaalburgsGraphic Novel Der Duft der Kiefern (2021)oder Bettina Henkels Dokumentarfilm Kinder unter Deck (2019)zu nennen.

Im Zentrum meines Vortrags stehen zwei Prosatexte, die jeweils eine postmemoriale Reise zur Grundlage haben sowie diese erzählend erarbeiten. Während Sophie Pannitschkas Reise nach Tartu auf den Spuren der Fotografen-Familie Schulz führt, von der sie abstammt, geht Christiane Hoffmanns Reise vom Herkunftsort ihres Vaters aus und vollzieht den Fluchtweg aus Niederschlesien buchstäblich nach. Beide Texte setzen sich – auf jeweils unterschiedliche Weise – mit dem Spannungsfeld von Erinnern und Nicht-Erinnern(können) sowie mit der deutschen Geschichte des jeweiligen Ortes/der jeweiligen Region und deren Verschwinden auseinander. Welche Rolle kommt in diesen Texten der Reisebewegung selbst zu, der Begegnung mit den heutigen Orten und Bewohner? Welche Bedeutung hat das Medium der Fotografie im Wechselverhältnis mit dem geschriebenen Text? Inwiefern wird das familiäre Erbe als ein geteiltes Erbe begriffen? Und welche Funktion hat hierfür die Reise und die Begegnung mit den heutigen Bewohnern?

Accept Cookies